Thomas Bayrle
Sandwerfer (Zeichen für Epoche) 2005/2010
Siebdruck auf Pappe, Geflecht auf Holzgitter
183 x 183 x 12 cm
© VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Foto: Gerhard Sauer
Sandwerfer (Zeichen für Epoche) gehört zu einer Gruppe von Arbeiten, die erstmals 2005 nach einem mehrmonatigen Aufenthalt Thomas Bayrles in China entstand und für die er auf Fotos der Mao-Zeit aus chinesischen Propagandaheften zurückgriff. Das reliefartig in den Raum greifende Werk besteht aus einem quadratischen Kartongeflecht, das mit einer der fotografischen Vorlagen bedruckt ist. Es zeigt Menschen auf einem Hügel, die damit beschäftigt sind, Sand zu schaufeln. In Schwarz-Weiß aus dramatischer Untersicht gegen den Himmel fotografiert, erscheint der Hügel geradezu monumental, die Menschen hingegen wirken zwergenhaft klein. Die Physiognomien der einzelnen Personen sind aufgrund der grobkörnigen Abbildung kaum zu erkennen. Schemenhaft heben sie sich gegen den Himmel ab. Ihrer individuellen Züge beraubt, werden sie zu nicht naher definierten Teilen einer Masse, eines Kollektivs, dessen Interessen – so die Rhetorik der kommunistischen Propaganda – sich das Individuum unterzuordnen hat. Das Phänomen der Masse ist ein zentrales Thema im Œuvre Thomas Bayrles. Inspiriert durch die Lektüre von Siegfried Kracauers Essay-Sammlung Das Ornament der Masse (1963) und Elias Canettis Masse und Macht (1960), setzt sich der Künstler ab Mitte der Sechzigerjahre mit der Massengesellschaft und der Entindividualisierung des Einzelnen auseinander.
Die Abbildung wurde zunächst in Streifen zerlegt, dann mittels Siebdruckverfahren auf Kartonstreifen übertragen und anschließend, in Analogie zur Herstellung von Textilien, zu einer neuen Bildstruktur verwoben. Solchen Geweben begegnen wir häufig bei Bayrle, der vor seiner künstlerischen Laufbahn eine Ausbildung zum Weber absolviert hat. Für ihn ist das Gewebe eine Metapher für die Gesellschaft, oder, wie er es formuliert: „Das Individuum ist der Faden, die Masse der Stoff.“ Und so wie die Gesellschaft voller Brüche und Verwerfungen ist, so haben sich auch in das regelmäßige Auf und Ab von Kette und Schuss im Raster seines vorliegenden Werks Unregelmäßigkeiten in die Webstruktur eingeschlichen. Doch hinter den vermeintlichen Webfehlern steckt wohldurchdachtes Kalkül: Der Verlauf der Kartonbahnen zeichnet nämlich ein chinesisches Schriftzeichen nach. Es ist das Zeichen für den Begriff „Epoche“, der gleichzeitig eine Art Untertitel dieses Werkes ist. Somit wird diese Arbeit zur Metapher für einen konkreten Abschnitt chinesischer Geschichte – die Epoche des Maoismus.
Thomas Bayrle
1937 geboren in Berlin
Lebt und arbeitet in Frankfurt am Main